Call for Papers: Gesellschaftstheorien in der Kommunikations- und Medienwissenschaft
Problemaufriss und Ziel der Tagung
Kommunikation und (digitale) Medientechnologien stehen im Mittelpunkt einer Vielzahl klassischer Gesellschaftstheorien und neuerer gesellschaftsbezogener Gegenwartsdiagnosen. Kommunikation ist beispielsweise die Operation, welche die sozialen Systeme Niklas Luhmanns (1984) erzeugt und erhält. Für Berger und Luckmann (1966) sind lebensweltliche Kommunikationsprozesse das zentrale Moment der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion. Auch aktuelle Diagnosen der postmodernen Gesellschaft, wie Hartmut Rosas These der Beschleunigung (2020), sind nicht denkbar, ohne globale Kommunikationsinfrastrukturen miteinzubeziehen.
Die aufgeführten Beispiele sind aus Sicht der Kommunikations- und Medienwissenschaft (KMW) ambivalent. So zeigen sie einerseits die Relevanz unseres Faches zur Analyse und Lösung gegenwärtiger Probleme. Andererseits bleibt ein Unbehagen darüber, dass die Theoriebildung zum Medien- und Gesellschaftswandel momentan eher in anderen Disziplinen – allen voran der Soziologie – erfolgt und dort häufig unter Auslassung kommunikations- und medienwissenschaftlichen Fachwissens geschieht (vgl. Beck 2021). Allerdings ist das ambivalente Verhältnis zwischen KMW und (Gesellschaft-)Theorie kein neues Phänomen. Zwar liegt keine Theoriearmut vor, aber aus gutem Grund wird immer wieder angemahnt, dass es im Fach mehr Theoriearbeit brauche. Wichtige Impulse dafür kamen 2004 und 2005 aus der Fachgruppe Soziologie der Medienkommunikation, die zwei theorieorientierte Tagungen veranstaltete (Winter, Hepp, Krotz, 2008). Es erscheint daher nur passend, genau 20 Jahre später, diesen Theoriefokus erneut aufleben zu lassen und Gesellschaftstheorien in den Mittelpunkt einer Fachtagung zu stellen.
Ziel der Veranstaltung ist es, den Blick auf die Rolle von Gesellschaftstheorien im Fach zu lenken. Es sind Beiträge entlang des gesamten Spektrums von Handlungs-, Praxis-, System- und Netzwerktheorien willkommen. Bei den Beiträgen soll es um die Herausarbeitung von Anwendungsbereichen, Möglichkeiten und Grenzen der Theorien sowie fachspezifischen Weiterentwicklungen gehen. Weiterhin soll betrachtet werden, welche Möglichkeiten zur Bildung genuin kommunikations- und medienwissenschaftlicher Gesellschaftstheorien bestehen sowie Herausforderungen, problematische Entwicklungen und Grenzen der Theoriebildung diskutiert werden. Auch wenn der Fokus auf Fragen der Kommunikationswissenschaft liegt, sind Einreichungen aus anderen Fachdisziplinen sehr willkommen.
Mögliche Themen und Fragen sind:
1. Kommunikations- und medienwissenschaftliche Zugänge zur (digitalen) Gesellschaft
Viele der gegenwärtigen soziologischen gesellschaftstheoretischen Großentwürfe beschäftigen sich mit Digitalisierung und den mit ihr verbundenen Prozessen. Digitalisierung erscheint zum Beispiel als Antwort auf gesteigerte Komplexität (Nassehi 2019), als Ursache für Singularitäten (Reckwitz 2019) oder als Treiber eines Resonanzbedürfnisses (Rosa 2020). In dem Bereich könnten folgende Themen
und Fragen interessant sein:
- KMW und soziologische (digitale) Gesellschaftstheorien: Was ist die Sicht der KMW auf die soziologischen Theorien der Postmoderne? Wie lassen sie sich auf unsere Fragestellungen anwenden und wie können sie durch den Einbezug der KMW geschärft werden?
- KMW und klassische Gesellschaftstheorien: Welche Gesellschaftstheorien sind aus Sicht der KMW besonders anschlussfähig und wie wird mit ihnen gearbeitet? Wie stehen unterschiedliche Theorien zueinander? Was sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Sind beispielsweise differenztheoretische Ansätze, wie Luhmanns Theorie sozialer Systeme, aufgrund ihrer strengen Theoriearchitektur schwieriger an Fachinhalte anzupassen als flexible Terminologien, wie die der Distinktionstheorie von Pierre Bourdieu?
- Digitalisierung und Differenzierung: Wie wirken Digitalisierung und gesellschaftliche (Ent-) Differenzierung von Teilsystemen oder Handlungsfeldern zusammen? Führen konvergente Prozesse und der Zusammenfall von Kontexten zur Entgrenzung von Funktionsbereichen und den dazugehörigen Expert:innenrollen?
- Kommunikationswissenschaftliche Gesellschaftstheorien: Welche genuin kommunikations- und medienwissenschaftlichen Gesellschaftstheorien liegen vor? Wie ist der Stand von Mediatisierungs- und Medialisierungstheorie? Haben Konzepte wie Public Connection Theoriestatus und was sind aktuelle Herausforderungen und Trends im Bereich der Theorien zu Medien(-kultur), Teilhabe und Partizipation (Couldry 2019; Ribeiro, Melo, Carpentier 2019)?
2. Gesellschaft, Individuum und subjektiver Sinn
Die Frage, wie das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum aussieht und wie beide zueinanderstehen, hat immer wieder zur Komplexitätssteigerung soziologischer Theoriebildung geführt. Auch in der KMW ist die Frage nach der theoretischen Darstellung des Verhältnisses von
Strukturen und Individuum zentral:
- Netzwerke, Relationen und subjektiver Sinn: Netzwerktheorien und Theorien, welche die Bedeutung von Mustern und Relationen betonen, haben mit der Digitalisierung neuen Aufwind bekommen. Es ist allerdings nicht immer klar, wo in diesen Konzeptionen Raum für die Verarbeitung subjektiven Sinns ist. Gewünscht sind daher Beiträge zu Netzwerktheorien und dem Verhältnis von Strukturen und subjektivem Sinn.
- (Medien-)Akteure jenseits von Individuen: Arbeiten aus dem Bereich der Akteur-Netzwerk-Theorie und der Science und Technology Studies konzipieren auch unbelebte Dinge als Akteure in Medienassemblagen. Wie wird in der KMW damit gearbeitet und sind die untersuchten Medienassemblagen auf der Ebene der Gesellschaft angesiedelt?
- Verbindungen der Makro-, Meso- und/oder Mikroebene: Welche Theorien erlauben Verbindungen der Makro-, Meso-, und Mikroebene und wie funktionieren die Links zwischen den Ebenen?
3. Mediale Funktionen auf der Makroebene
Der Bezug auf normative Medienfunktionen wie Integration, Orientierung, Partizipation, Bildung, Kritik oder Kontrolle gehört zum Kern der KMW. In diesem Themenbereich wird eine Bestandsaufnahme gesellschaftstheoretischer Ausarbeitungen medialer Funktionen auf der Makroebene anvisiert:
- Medien und Integration: Welche gesellschaftstheoretischen Entwürfe integrierender Medienstrukturen, wie der des öffentlichen Rundfunks oder der Bürgermedien liegen vor? Wie gehen normative Gesellschaftsvorstellungen mit Diagnosen wie Fragmentierung oder Polarisierung um?
- Medien, Dissens und Extremismus: In welchem Verhältnis stehen Vorstellungen von integrierenden Medienfunktionen zu gesellschaftstheoretischen Entwürfen, die Antagonismus und die Ambivalenz der menschlichen Natur betonen (z.B. Mouffe 2013)? Wie können Medien gesellschaftlichen Dissens verarbeiten und wie können extreme oder schädliche Medienentwicklungen, wie die Radikalisierung rechter Gruppierungen, gefasst werden?
- Neue Problemlagen und neue Medienfunktionen: Wenn Phänomene wie digitaler Stress oder digitale Überwachung als neue gesellschaftliche Problemlagen identifiziert werden, was sind dann die wünschenswerten Zustände und medialen Funktionen, die ihr Gegenstück bilden? Braucht es neue Konzepte von Medienfunktionen oder lassen sie sich mit bestehenden Konzepten erfassen?
4. Eigene Ansätze sowie Kritik und Reflexion (in) der Theoriebildung
Der Themenbereich behandelt systematische Verfahren der Theoriebildung und soll dazu beitragen, Theorieentwicklungen kritisch zu hinterfragen. Hier sind auch workshopähnliche Formate denkbar.
- Theorieentwicklung: Mit welchen Vorgehensweisen lassen sich Theorien entwickeln und ausbauen? Was sind Best-Practice-Beispiele? Was eröffnet interdisziplinäres Arbeiten für Theorieentwicklung? Ist die die Theorieproduktion der KMW anschlussfähig für andere Disziplinen? Gibt es Forschungsbereiche, in denen Theoriebildung besonders wichtig ist?
- Kritik und Reflektion: Gewünscht sind Reflektionen zur Theoriebildung unter besonderer Berücksichtigung von gesellschaftskritischen (Habermas 1995), de-kolonialen oder feministischen Perspektiven (Mulvey & Backman Rogers, 2015). Was sind blinde Flecken unseres Faches und wie lässt sich der Fokus auf westliche Gesellschaftstheorie und Gesellschaften aufbrechen? Welche Gesellschaftstheorien können auf Länder des globalen Südens angelegt werden und welche Theorietraditionen finden sich diesbezüglich?
Tagungsformate und Fachrichtungen:
Wir möchten diverse Formate ermöglichen und Einreichungen aus Fachrichtungen außerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaft sind willkommen. Es sind deshalb neben klassischen Vorträgen und Panels auch Vorschläge für andere Formate, wie z.B. Workshops, erwünscht. Wenn Sie ein besonderes Format umsetzen möchten, geben Sie dies bitte bei Ihrer Einreichung an oder mailen Sie uns schon vorab an.
Formalitäten der Einreichung:
Beiträge für die Fachgruppentagung sind in Form von Extended Abstracts im Umfang von maximal 800 Wörtern (exkl. Literaturverzeichnis, Darstellungen u. ä.) oder als Bewerbungen anderen Formats (s. o.) sind ab sofort bis zum 8. April 2024 einzureichen. Einreichungen sind nur in elektronischer Form möglich (.doc, .docx, .rtf nicht jedoch als .pdf) und sollten an die Mail-Adresse sozmed24@uni-rostock.de gesendet werden.
Es gelten die Richtlinien zu Doppeleinreichungen der Fachgruppen. Insbesondere müssen Einreichende auf dem Deckblatt bestätigen, dass der Beitrag in dieser Form nicht bereits in einer Publikation veröffentlicht oder auf einer wissenschaftlichen Tagung präsentiert wurde. Die Vorschläge werden in einem anonymisierten Review-Verfahren begutachtet. Deshalb bitten wir
darum, die Einreichung mit einem gesonderten Deckblatt zu versehen, auf welchem der Beitragstitel sowie Name und Kontaktdaten der Einreichenden angegeben sind. Bitte anonymisieren Sie Ihren Beitrag, indem Sie alle die Autor:innen identifizierenden Angaben aus Text und Dokumenteneinstellungen entfernen.
Die Einreichungen werden nach fünf Kriterien beurteilt: Beitrag zum Tagungsthema, Plausibilität der analytischen/theoretischen Fundierung, Angemessenheit der Methode/Vorgehensweise, Klarheit und Prägnanz der Darstellung sowie Relevanz/Originalität. Alle Einsendungen werden von
mindestens zwei Reviewer:innen begutachtet. Das Ergebnis des Reviews wird bis Anfang Juni 2024 vorliegen. Dieses Ergebnis stellt das primäre Auswahlkriterium eines Beitrags dar, die Tagungsleitung behält sich jedoch vor, auch die Gesamtkonzeption der Tagung bei der Auswahl der Beiträge zu berücksichtigen sowie einzelne Kolleg:innen mit der Bitte um Beiträge anzusprechen (z. B. für Impulsreferate, Denkanstöße). Wir freuen uns auf Ihre Einreichungen!
Richten Sie gern weitere Fragen an uns:
Tagungsorganisation:
Dr. Paula Nitschke
Dr. Franziska Thiele
Literatur:
- Beck, K. (2021). Nassehi, Armin: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. Rezension. Publizistik 66, 169–172 (2021). https://doi.org/10.1007/s11616-020-00633-0
- Berger, P. L. & Luckmann, T. (1969 (1966)). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (Fischer). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.
- Couldry, N. (2019) Media, Voice, Space and Power: Essays of Refraction, London: Routledge.
- Habermas, J. (1995). Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
- Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
- Mouffe, C. (2013). Agonistics. Thinking the world politically. 1. publ. London: Verso.
- Mulvey, L. & Backman Rogers, A. (2015). Feminisms. Diversity, Difference and Multiplicity in Contemporary Film Cultures. Amsterdam: Amsterdam University Press.
- Nassehi, A. (2019). Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck.
- Reckwitz, A. (2021). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. 5. Auflage, wissenschaftliche Sonderausgabe. Berlin: Suhrkamp.
- Ribeiro, F., Melo, A. D. & Carpentier, N. (Hrsg.). (2019). Rescuing participation (Special Issue) (Bd. 36). https://doi.org/10.17231/comsoc.36(2019).2390
- Rosa, H. & Oberthür, J. (2020). Gesellschaftstheorie. München: UVK Verlag.
- Winter, C., Krotz, F. & Hepp, A. (2008) (Hrsg.). Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Grundlegende Diskussionen, Forschungsfelder und Theorieentwicklungen in der Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden: Springer VS.